Das Mona-Lisa-Interface, oder: Fünfhundert Millionen Jahre Neue Medien



Mitschrift des Vortrags vom 31.6.

In der langjährigen Tradition, Vorträge von Gastdozenten mit einer Einführung zu beginnen, möchte ich hier den berühmten Medienwissenschaftler und -historiker Prof. Dr. Dr. Gandalf Mackenstrunz vorstellen. Er ist Gründungsmitglied der international tätigen Panatlantisch-Liberalistischen Universität für Medien-Forschung (PLUMF) und dort Professor für Angewandte Medien-Forschung (PAMF). Wie viele andere renommierte Medienwissenschaftler ist er der Ansicht, daß nicht die Arbeit mit neuen Medien uns Gelegenheit zur Forschung bietet, sondern ihre Beobachtung aus möglichst weiter Distanz. Bekanntermaßen gilt, wie es uns der große Heisenberg gelehrt hat, die Unschärferelation: Je kleiner der Abstand, desto größer die Impulsunschärfe. Ergo: Je weiter man weg ist, desto besser sieht man, wo es hingeht.

In seiner Publikation "Das Prana der Programmierkunst" beschreibt Mackenstrunz seine Versuche, die Neuen Medien aus möglichst großer Distanz telepathisch zu erfahren, um auf eine physische Kontaktaufnahme ganz verzichten zu können. Leider endeten seine medien-esotherischen Studien tragisch: Er channelte bis vor zwei Wochen medial die CPU des Hamburger Verkehrsleitrechners und reagierte auf Ansprache nur noch mit den Worten "Rot, Gelb, Grün!" Um so mehr Hochachtung verdient übrigens seine trotzdem absolvierte Habilitation zum Thema Medienwissenschaften, besonders die mündliche Prüfung. Nachdem der bekannte Guru Fu Ji Ttsu aus dem ersten vollcomputerisierten Lamakloster "Zum glücklichen Zentralprozessor" die schädlichen Vibrations des Hamburger Verkehrsleitrechners abgeblockt hat und Prof. Dr. Dr. Gandalf Mackenstrunz wieder in der Lage ist, auf seinen gesamten Wortschatz zuzugreifen, hier seine bahnbrechenden Erkenntnisse über die Geschichte der neuen Medien:

"Liebe Kollegen, liebe Nichtmedienwissenschaftler in Führungspositionen und liebe Proletarier,
auch wenn letztere beide Gruppen natürlich nicht zu einem qualifizierten Verständnis meiner Ausführungen in der Lage sind und ich auch bei der ersteren oft gewisse Zweifel habe, möchte ich hier über die Geschichte der neuen Medien der letzten fünfhundert Millionen Jahre unter besonderer Berücksichtigung der Speziellen Mackenstrunz-Theorie referieren.

Wichtigstes Werkzeug des Medienhistorikers ist die Terminologie. Die Medientechnologie beschert uns ein nahezu unerschöpfliches Reservoir an Fachausdrücken, sodaß sich der Medienwissenschaftler im Gegensatz zu den meisten anderen Geisteswissenschaftlern in der erfreulichen Lage sieht, Begriffe nicht selbst erfinden zu müssen.

Doch hier gibt es einen Wermutstropfen: Die Technologen definieren Begriffe, um ihre Bedeutung festzulegen. Das ist ein Kardinalfehler, der vom Medienwissenschaftler nicht akzeptiert werden kann. Ziel einer Definition sollte es vielmehr sein, einen Begriff für eine möglichst große Anzahl von Interpretationen quasi zu öffnen und damit die geistigen Horizonte für die Freiheit des Denkens zu weiten. Ich nehme exemplarisch den Begriff "Interface".

Ich gab einmal in einem Vortrag folgendes Beispiel für eine faszinierende neue, medienhistorische Theorie auf der Basis einer gelungenen Definition: Rembrandt war ein Interface-Designer!

Nur ein völlig unterbelichteter Nicht-Medienwissenschaftler- leider gibt es sehr viele davon -würde das für Blödsinn halten. Ein Angehöriger meiner Profession würde dagegen fragen: Wie definiert Professor Dr. Dr. Gandalf Mackenstrunz den Begriff Interface? Ein Technokrat definiert es als Hard- oder Software, durch die Informationen mit anderer Hard- oder Software oder der Außenwelt ausgetauscht werden. Das kann ein simpler Knopf oder eine elektronische Schaltung, aber auch ein graphisches Betriebssystem sein.

Meine Definition ist wesentlich eleganter: Was sehen wir denn von einem Interface? Meistens ein großes, buntes Bild, das irgendwie mit uns kommuniziert. Und was hat Rembrandt geschaffen? Große, bunte Bilder, die irgendwie mit uns kommunizieren.

Dinge, die irgendwie kommunizieren. So definieren wir Interfaces! Und das ist die Spezielle Mackenstrunz-Theorie, die ich erstmalig in meiner vielbeachteten Arbeit "Zur Gruppendynamik kommunizierter Bilder" formuliert habe. Und hiermit ergibt sich: Rembrandt war ein Interface-Designer! Quod erat demonstrandum.

Darauf meldete sich in meinem damaligen Auditorium ein Hacker, dessen Frage die Beschränktheit von Technologen eindrucksvoll bewies: "Hat das den alten Remmi nicht irgendwie abgefrustet, daß seine Interfaces, zum Beispiel "Die Nachtwache", weder einen VGA-Port noch eine LCD-Aktiv-Matrix hatten? Dann hätte der Meister auch einfach mit MS Paint arbeiten können. Pinseln gibt doch eine viel zu niedrige Bildfrequenz! Wahrscheinlich mußten seine Schüler deshalb auch immer mitpinseln." An diesem abschreckenden Beispiel der Ignoranz sehen wir ganz klar, daß für eine Erkenntnisbildung der Abstand zur Technologie eine zwingende Voraussetzung ist. Ohne diese Abstraktionsgrundlage ist keine sinnvolle Verallgemeinerung möglich. Wie schon Euklid vor 2300 Jahren in seiner Kritik des Archimedes feststellte: "Der reine Geist der Mathematik darf nicht durch schmutzige Materie besudelt werden!" Und bekanntlich ist ja die Mathematik, wie auch alle anderen Wissenschaften, nur ein sekundärer Bereich der Medienwissenschaft.

Meiner Beweisführung möchte ich noch einige weitergehende Gedankengänge hinzufügen: Rembrandt war ein Künstler. Alle Künstler kreieren Dinge, die irgendwie kommunizieren. Also sind alle Künstler Interface-Designer. Das bezeichne ich als erstes Postulat der Mackenstrunz-Theorie.

Das Interface-Design begleitet uns diesem Postulat zufolge durch die gesamte Menschheits- und Mediengeschichte. Der berühmte Interface-Designer Ludwig van Beethoven hat sogar bereits die technische Realisierung der neuen Medien vorausgeahnt. Seine ersten acht Sinfonien komponierte er so, daß jeweils genau zwei davon auf eine CD passen.

Und was ist mit Franz Schubert? Er hat bei seiner achten, angeblich unvollendeten Sinfonie bewußt auf die letzten zwei Sätze verzichtet! Auch diesem alten Meister der neuen Medien war das Problem des begrenzten Speicherplatzes auf dem runden Datenträger offensichtlich bekannt. Für den Launch seiner achten und neunten Sinfonie etwa einhundertsiebzig Jahre nach der Komposition auf einer CD- wahrscheinlich hatten ihm seine Marketingberater einen Longplayer empfohlen -hat er sich eben bei der achten etwas eingeschränkt. Ich nenne das großartigen künstlerischen Weitblick. Und damit habe ich ein altes Rätsel der Musikgeschichte gelöst.

Der geniale Designer des Mona-Lisa-Interfaces, Leonardo da Vinci, hat nicht nur Interfaces, sondern auch einen Computer designt. In einem wiederentdeckten vatikanischen Archiv fand sich sein Entwurf eines dampfbetriebenen Digitalrechners. Das Gerät kam aber nie zum Einsatz, weil da Vinci keinen kostengünstigen Internetprovider fand. Auch ein Laptop hatte er entwickelt, das allerdings wegen des 65 Kilo schweren Dampfkessels wohl zu unhandlich geworden wäre. Pech für die Renaissance-Yuppies. Öffentliche Spekulationen, warum 1983 der erste Apple-Rechner ausgerechnet Lisa hieß, sind mir leider per einstweiliger Verfügung verboten worden.

Man kann wohl sagen, daß die Arbeit mit neuen Medien schon seit den steinzeitlichen Höhlen-Interfaces von Altamira Kulturgut der Menschheit ist. Es hat bereits in der neolithischen Kultur Versuche gegeben, siliziumbasierte Rechnersysteme herzustellen. Stonehenge in Großbritannien zeugt noch heute davon, obwohl die dort herumliegenden siliziumhaltigen Bauelemente wohl nur als erste Prototypen von Mikrochips angesehen werden können. Und es gibt hier auch Relikte von Interface-Design: Kleine, mausähnliche Skulpturen und Runensteine mit Aufschriften wie: "Unbekannter Fehler: Konsultieren Sie den Systemadministrator oder einen Druiden!" scheinen darauf hinzudeuten, daß hier versucht wurde, ein frühes Windows-Betriebssystem einzusetzen. Viele Nutzer finden ja auch heute noch bei Windows gewisse, offensichtlich tradierte, steinzeitliche Aspekte.

Waren auch die Dinosaurier Interface-Designer? Gibt es einen Zusammenhang zwischen dem Aussterben der Dinosaurier und schlechtem Interface-Design? Besteht Steinkohle aus komprimierten Datenträgern? Schwammen in der Ursuppe des Präkambriums neue Medien? Das sind Fragen aus fünfhundert Millionen Jahren Mediengeschichte, denen sich die Medienhistoriker in Zukunft stellen müssen.

Ich selbst untersuche zur Zeit die Möglichkeit, eine allgemeine Mackenstrunz-Theorie der neuen Medien aufzustellen. Anhand meines durchhängenden CD-Regals ist mir bereits der experimentelle Nachweis gelungen, daß neue Medien den Raum krümmen.

Ich möchte das Auditorium gleich zu meinem nächsten Vortrag einladen. Beim Studium der Autographen des berühmten Interface-Designers Antonio Vivaldi in Venedig bemerkte ich im Licht der Leselampe ein vielsagendes Aufblitzen. In einem kleinen, seit Jahrhunderten verschlossenen Pergament-Umschlag auf der Rückseite der Originalpartitur der "Vier Jahreszeiten" fand ich ein dünnes, rundes Stück hochglanzpoliertes Rosenholz mit winzigen, eingravierten Rillen. Hören Sie demnächst mehr in meinem Vortrag: Das Vivaldi-Video- die erste DVD der Mediengeschichte."

Vielen Dank an unseren Gastdozenten Prof. Dr. Dr. Gandalf Mackenstrunz, PAMF der PLUMF. Bin mal gespannt, wie ein Rokoko-DVD-Player aussieht.....


Bernd Papenfuß